Aufruf zum Widerstand gegen den Abbau unserer demokratischen Grundrechte || Protest vor dem Hamburger Landgericht zum G20-Prozess am 8.+9. Februar 2024 8 Uhr
Dienstag * 09.07.2024 * 19 Uhr * Emmaus-Kirche * Lausitzer Platz in Kreuzberg
Das Recht auf Versammlungsfreiheit wird in Deutschland zunehmend eingeschränkt durch Versammlungsverbote, repressive Gesetzgebung und Polizeigewalt. Klima-Aktivist*innen werden in Präventivhaft genommen, Antifaschist*innen in Leipzig über Stunden eingekesselt und pro-palästinensische Veranstaltungen und Demonstrationen verboten.
Mit dem seit Januar 2024 in Hamburg laufenden Rondenbarg-Prozess droht ein weiterer Angriff auf die Versammlungsfreiheit. Ein Demonstrationszug mit etwa 200 Teilnehmer*innen war während des G20-Gipfels 2017 auf dem Weg zu den Blockadeaktionen in der Straße „Rondenbarg“ von der Polizei ohne Vorwarnung gewaltsam aufgelöst worden. 14 Personen mussten ins Krankenhaus. Insgesamt 86 Personen wurden angeklagt. Zwei der damals Festgenommenen stehen wegen dieser Demonstration derzeit vor Gericht, der Vorwurf lautet schwerer Landfriedensbruch. Das Besondere an dem Fall ist, dass den Angeklagten keine eigenhändigen Taten vorgeworfen werden, allein ihre Anwesenheit sei strafbar. Durch das Tragen ähnlicher Kleidung soll einem vermeintlichen gemeinsamen Tatplan zugestimmt worden sein bzw. „Straftäter“ gedeckt worden seien.
Eine Verurteilung wäre eine weitere praktische Verschärfung des Paragrafen 125 Landfriedensbruch. In Zukunft müssten dann Demonstrationsteilnehmende damit rechnen, verurteilt zu werden, wenn es zu strafbaren Handlungen auf einer Demonstration kommt. Die bloße Anwesenheit wäre dann strafbar.
Wir wollen über den aktuellen Stand im Rondenbarg-Verfahren sprechen, über die Angriffe auf die Versammlungsfreiheit und die Rolle des Paragrafen 125.
Rechtsanwalt Adrian Wedel Verteidiger im Prozess und Mitglied im Republikanischen Anwältinnen- und Anwälteverein (RAV), wird die Konsequenzen des Urteils aus einer juristischen Perspektive erörtern
Angeklagte*r im Rondenbarg-Prozess wird auf die Rolle des Paragrafen 125 und der staatlichen Repression eingehen
Vertreter*in von Amnesty International Deutschland wird zur Lage der Versammlungsfreiheit in Deutschland sprechen
Seit Januar läuft vor dem Hamburger Landgericht ein Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit den G20-Protesten in Hamburg. 2017 wurde dort in der Straße „Rondenbarg“ eine G20-kritische Demonstration von einer Sondereinheit der Polizei eingekesselt und aufgelöst. Dabei wurden elf Demonstrierende schwer verletzt, kein Beamter kam zu Schaden. Trotzdem stehen jetzt nicht die verantwortlichen Polizeibeamten, sondern die Demonstrierenden vor Gericht: Angesetzt sind 25 Prozesstage gegen Aktivist*innen, die aus ihrem Arbeitsalltag und Privatleben gerissen werden.
Das Verfahren bedroht das Grundrecht auf Versammlungsfreiheit: Keinem der Angeklagten wird eine individuelle Tat vorgeworfen, die bloße Anwesenheit auf der Demonstration soll für eine Verurteilung reichen. Das würde Kollektivstrafen gegen Demonstrierende zunehmend als Standard etablieren. Allein die Möglichkeit für die bloße Teilnahme an einer Demonstration vor Gericht zu landen, kann schon heute abschrecken, überhaupt an Versammlungen teilzunehmen.
Schützen wir die Versammlungsfreiheit! Ziviler Ungehorsam ist kein Verbrechen!
Nach über drei Monaten und 13 Verhandlungstagen ist von der ursprünglichen Anklage der Staatsanwaltschaft nicht mehr viel übrig. Das Gericht erkannte an, dass es sich bei der Demonstration am Rondenbarg grundsätzlich um eine Versammlung im Sinne des Grundgesetzes handelte. Doch das ist kein Grund zum Aufatmen, die Gefahr einer Einschränkung des Demonstrationsrechts durch Kollektivstrafen ist sogar noch gewachsen. In Zukunft könnte schon die falsche Jacke auf einer Demo zum Problem werden.
Der Demozug am Rondenbarg war als Teil des Farbkonzepts von Block G20 (roter, blauer, grüner, pinker und schwarzer „Finger“) größtenteils dunkel gekleidet. Daraus konstruiert das Gericht jetzt eine „psychische Beihilfe“ und zieht eine kollektive Veruerteilung wegen Landfriedensbruch in Betracht. Wenn schon ähnliche Kleidung für eine kollektive Strafbarkeit ausreicht, was bleibt dann übrig von selbstbestimmmter Gestaltung politischer Versammlungen? Insgesondere Aktionen des zivilen Ungehorsams mit einheitlichen Outfits geraten so ins Visier der Justiz. Dabei braucht diese Gesellschaft angesichts von Kriegen, Klimakrise und rechter Hetze gerade jetzt mehr mutige Menschen die ihr demokratisches Recht auf Versammlungsfreiheit kreativ und vielfältig nutzen.
WAS TUN?
Schafft Öffentlichkeit! Leitet diesen Text an eure Verteiler, Kolleg*innen und Freund’*innen weiter. Teilt das Sharepic und weiteres Material auf Social Media und macht den Prozess bekannt.
Hingucken! Zuhören! Dokumentieren! Wir rufen dazu auf, den Prozess auch im Gerichtssaal aktiv zu begleiten. An allen Prozesstagen gibt es außerdem Kundgebungen vor dem Hamburger Landgericht – beginnend jeweils eine Stunde vor Prozessbeginn.
Demonstrieren! Am Samstag vor dem „Tag X“ der Urteilsverkündung werden in verschiedenen Städten Deutschlands Demonstrationen stattfinden. Ein Urteil ist im Juli zu erwarten, Infos bald unter: https://gemeinschaftlich.noblogs.org/
Prozesse kosten Geld! Spendet für die Betroffenen auf das Konto von Rote Hilfe e.V., IBAN: DE25 2605 0001 0056 0362 39, Sparkasse Göttingen, Stichwort „G20“
am 18. Januar beginnt vor dem Hamburger Landgericht erneut ein Gerichtsverfahren im Zusammenhang mit den G20-Protesten 2017. Mehr als sechs Jahre danach wird der Prozess gegen Teilnehmende einer G20-kritischen Demonstration eröffnet, die in der Straße „Rondenbarg“ in Hamburg von einer Sondereinheit der Polizei eingekesselt und aufgelöst wurde. Dabei wurden elf Demonstrierende schwer verletzt, kein Beamter kam zu Schaden. Angesetzt sind 25 Prozesstage gegen junge Kolleg:innen aus dem ganzen Bundesgebiet, die aus ihrem Arbeitsalltag und Privatleben gerissen werden.
Keinem der sechs Angeklagten wird eine individuelle Tat vorgeworfen: Wegen bloßer Anwesenheit sollen Demonstrierende, darunter Mitglieder des damaligen Bonner Jugendvorstands der ver.di und eine IGM-Vertrauensfrau, zu Haftstrafen verurteilt werden. Dieses Vorgehen der Staatsanswaltschaft würde dazu führen, Kollektivstrafen gegen Demonstrierende zunehmend als Standard zu etablieren. Das ist ein massiver Angriff gegen die Demonstrationsfreiheit und unsere Grundrechte!
Wir rufen daher dazu auf „Demokratische Grundrechte und Versammlungsfreiheit verteidigen! G20-Prozesse einstellen!“
Solidarische Grüße!
Ulla Jelpke, ehemalige innenpolitische Sprecherin DIE LINKE im Bundestag Olaf Harms, Vorsitzender Landesbezirksvorstand ver.di-Hamburg Rolf Becker, Schauspieler, ver.di-Mitglied Katharina Schwabedissen, Gewerkschaftssekretärin Dr. Rolf Gössner, Jurist/Publizist, Internationale Liga für Menschenrechte, ver.di-Mitglied Gabriele Heinecke, Rechtsanwältin (RAV)
Kommt am Donnerstag 18.01. um 8 Uhr mit den Fahnen und Transparenten eurer Gewerkschaften und Organisationen zur Kundgebung und Pressekonferenz vor dem Hamburger Landgericht (Sievekingplatz 3)! Lasst uns mit einer bunten, lauten und kreativen Kundgebung deutlich machen, dass wir solidarisch und mit Vielen unsere Grundrechte verteidigen. Auch am 19.01. und den folgenden Prozesstagen (Liste siehe Link) wird es Kundgebungen vor Ort geben – beginnend jeweils eine Stunde vor Prozessbeginn. Bringt Schilder, Musikinstrumente, Heizstrahler, Heißgetränkespender, bunten Protest und kreative Ideen mit!
Hingucken! Zuhören! Dokumentieren!
Wir rufen dazu auf, den Prozess auch im Gerichtssaal aktiv zu begleiten, zu beobachten und Berichte zu schreiben (Sitzungssaal 237, Sievekingplatz 3). Wenn ihr hier bestimmte Termine übernehmen oder regelmäßig beobachten könnt, meldet Euch bitte unter info@grundrechteverteidigen.de
Orte schaffen!
Vor, nach und während der Prozesstage (Liste siehe Link) werden auch z.B. Schlafplätze und andere praktische Dinge für Angeklagte und ihre mitreisenden Partner:innen und Familienangehörigen gebraucht. Meldet Euch dafür bitte unter info@grundrechteverteidigen.de
Demonstrieren!
Kommt am Samstag 20. Januar um 16 Uhr zur Demonstration nach Hamburg am Jungfernstieg! Infos und Busanreise z.B. aus Berlin findet ihr unter https://gemeinschaftlich.noblogs.org/
Meldet Euch zu Wort!
Schickt uns Eure O-Töne! Teilt die Beiträge von Grundrechte verteidigen (Twitter: @demorecht). Organisiert Solidaritätskundgebungen für die Verteidigung unserer Grundrechte vor Ort. Schafft Öffentlichkeit, diskutiert in Euren Organisationen, berichtet über das, was vor Gericht passiert.
Prozesse kosten Geld!
Spendet für die Betroffenen auf das Konto von Rote Hilfe e.V., IBAN: DE25 2605 0001 0056 0362 39, Sparkasse Göttingen, Stichwort „G20“
Pressefreiheit sicher stellen!
Das OLG Hamburg hat die Anzahl der Journalist*innen limitiert, die am Prozess teilnehmen können. Seit dem 13. Januar müssen sich Berichterstatter*innen namentlich unter pressestelle@olg.justiz.hamburg.de für die Prozessberichterstattung anmelden. Informiert demokratische und gewerkschaftliche Journalist*innen über den Prozess.
Von Mitgliedern des ver.di-Bezirksjugendvorstands NRW-Süd von 2017 26.11.2020
Größter G20-Prozess bisher beginnt am 3.12. in Hamburg
Bonner Gewerkschafterinnen gehören zu den ersten Angeklagten
Bundesweiter Protest gegen Polizeiübergriff 2017 und folgende Strafverfolgung
Mammutprozesse gegen links, Polizisten vor Ermittlungen beschützt
Mehr als drei Jahre sind vergangen seit dem G20-Gipfel in Hamburg, bei dem Mitte 2017 die Bundesregierung mit Trump, Erdogan, Bolsonaro und anderen globalen Machthabern tagte. Am 3. Dezember 2020 beginnen nun von der Hamburger Staatsanwaltschaft betriebene „Mammutprozesse“ gegen vom Polizeiübergriff in der Hamburger Straße „Rondenbarg“ betroffene Demonstrant*innen. Obwohl aufgrund des vorliegenden Videomaterials der dringende Verdacht besteht, dass die angeklagten G20-Gegner*innen zum Opfer von z.T. schwerer Polizeigewalt und Freiheitsberaubung im Amt wurden, steht bis zum heutigen Tag keiner der Polizeibeamten vor Gericht. Soweit Ermittlungen eingeleitet wurden, modern diese im „Dezernat für Interne Ermittlungen“ der Hamburger Polizei vor sich hin.
In den bisher größten G20-Prozessen bisher sind insgesamt mehr als 50 Demonstrant*innen angeklagt, darunter fast alle Mitglieder des damaligen ver.di-Bezirksjugendvorstands NRW-Süd (heute: Bezirk Köln-Bonn-Leverkusen) und Aktive der „Bonner Jugendbewegung“, die seit 2007 für Bildungsstreiks, Klimaproteste, Demos gegen Neonazis und für Flüchtlingssolidarität in Bonn und Umgebung bekannt ist.
Durch einen Trick hat das Hamburger Gericht die Öffentlichkeit ausgerechnet bei diesem Skandalverfahren ausgeschlossen: Es wird zunächst nur gegen fünf damals Jugendliche verhandelt, und Verfahren gegen Jugendliche sind nichtöffentlich. Der Ausschluss der Öffentlichkeit geschieht offiziell “zum Schutz der Angeklagten” – genau diese wünschen sich aber explizit einen öffentlichen Prozess mit politischer Beobachtung.
Demonstranten verletzt und inhaftiert, Polizei-Darstellung widerlegt
Mindestens 14 Demonstrant*innen wurden am 7.7.2017 schwer verletzt, als Polizeibeamte eine Demonstration gegen globale Klimazerstörung und Ausbeutung durch die G20-Staaten in der Hamburger Straße „Rondenbarg“ binnen Sekunden brutal zerschlugen. Die ursprüngliche Darstellung der Ereignisse durch die Polizei wurde schnell durch Videos widerlegt. Kein Beamter kam zu Schaden, die beiden beteiligten Polizeieinheiten dagegen sind für ihre Brutalität gegen links deutschlandweit berüchtigt: Die Spezialeinheit „USK“ aus Bayern und die „BFE Blumberg“ aus Brandenburg. Viele Teilnehmer*innen der Demo haben das Ereignis und die folgende Freiheitsberaubung von bis zu fünf Monaten noch nicht verarbeitet.
Kollektivschuld durch neue Gesetze
Wie schon 2017/2018 beim Skandalprozess gegen den italienischen Azubi Fabio V., der auf derselben Demonstration festgenommen wurde, wird niemandem eine individuelle Straftat zur Last gelegt, sondern die Staatsanwaltschaft klagt kollektiv an: Nach dem Motto „Mitgefangen, mitgehangen – wenn andere vielleicht Straftaten begangen haben, dann seid ihr auch alle mitschuldig!“ Auch im jetzt startenden Prozess werden den Angeklagten lediglich „Anwesenheit bei einer Demo“ gegen den G20-Gipfel und „psychische Beihilfe“ zur Last gelegt.
Die Anklagen stützen sich, wie auch 2017 bei Fabio, u.a. auf das kurz vor dem G20-Gipfel 2017 neu erlassene Gesetz „Angriff auf Vollstreckungsbeamte“ (§114 StGB), eine Erweiterung des § 113 StGB. Der § 114 StGB hat eine Mindeststrafe von 3 Monaten und eine Höchststrafe von 5 Jahren Gefängnis!
Mitglieder des ver.di-Bezirksjugendvorstands NRW-Süd von 2017
ver.di-Bezirk NRW-Süd fordert öffentliche Aufarbeitung von Polizeiwillkür in Hamburg (Dezember 2017):
Scharfe Kritik formulierte der Bezirksvorstand am Hamburger Senat, der mit Rückendeckung der Bundesregierung früh die Weichen für harte und eskalierende Auseinandersetzungen rund um den Gipfel gestellt hat. „Die Polizeistrategie muss öffentlich und politisch aufgearbeitet werden“, fordert Monika Bornholdt. Dazu gehören auch die katastrophalen und menschenunwürdigen Zustände in der sogenannten GeSa (Gefangenensammelstelle). Der ver.di-Bezirksvorstand verurteilt die Polizeiwillkür und Polizeigewalt in Hamburg und erklärt sich solidarisch mit den von Grundrechtsverletzungen und Strafverfolgung betroffenen Kolleginnen und Kollegen. In diesem Zusammenhang kritisiert der Bezirksvorstand auch die Hausdurchsuchungen bei Mitgliedern der ver.di-Jugend in der letzten Woche. „Nach unserer Wahrnehmung ist dies völlig unverhältnismäßig“, erklärt Monika Bornholdt. „Scheinbar ging es nicht um die Aufklärung von Straftaten, sondern um die nachträgliche Legitimierung des völlig aus dem Ruder gelaufenen Polizeieinsatzes beim G20-Gipfel und um Schikane gegen politisch Aktive.“
Innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion Ulla Jelpke (November 2017):
»Angesichts der skandalösen Begründungen von Fabios fortdauernder Untersuchungshaft könnte man meinen, er stände in Ankara und nicht in Hamburg vor Gericht«. Die Repression solle aus ihrer Sicht vor allem abschreckend wirken. »Mit Rechtsstaatlichkeit hat das in meinen Augen nichts mehr zu tun, das ist vielmehr angewandtes Feindstrafrecht.«
„Das spricht schon Bände: 20.000 „Corona-Leugner“ und Nazis können in Berlin mitten in der Pandemie mit Reichskriegsflaggen demonstrieren und von der Polizei nahezu unbehelligt die Treppen des Bundestags stürmen. Aber uns wird nun in Hamburg als jugendlichen Gewerkschafter*innen und Antifaschist*Innen mit viel Aufwand ein Prozess gemacht, und zwar mehr als drei Jahre nach dem Gipfel. Denen geht es um eine Art Rache gegen links, während rechte Netzwerke in Polizei und Bundeswehr weiter wuchern. Ein politischer Riesenwahnsinn. Lasst uns am 28.11. gemeinsam ein Zeichen setzen, online oder auf der Straße!“
Nils Jansen, Geschäftsführender ver.di-Bezirksjugendvorstand NRW-Süd 2015-2018 und Betroffener
„Gerade für die zuerst angeklagten Kolleg*innen im Jugendprozess ist dieser eine enorme Belastung: Man erwartet von ihnen, trotz Schule, Ausbildung und Job monatelang jede Woche nach Hamburg und zurück zu fahren – zu einem Prozess, der dann auch noch unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet. Und das zum Höhepunkt einer ernsten Pandemie! Warum wird der Prozess nicht an den Wohnort der Angeklagten verlegt? Warum kann keine öffentliche Prozessbeobachtung stattfinden, auch wenn die Angeklagten und die Öffentlichkeit das wünschen? Sicher erhoffen sich Polizei und Justiz durch solche Maßnahmen ein „Einknicken“ der jungen Mitstreiter*innen vor Gericht. Was hier passiert, ist präventive Bestrafung und Maßregelung, ganz ohne dass je ein Urteil gesprochen wurde.“
Carlotta Grohmann, Mitglied im ver.di-Bezirksjugendvorstand NRW-Süd 2016-2018 und Betroffene
„Wir wollten gemeinsam an den angekündigten Blockaden gegen Trump, Erdogan und Co. teilnehmen, doch dazu kam es nicht: Nach nur 20 Minuten stoppte die Polizei unseren Demonstrationszug, dann ging alles blitzschnell. Von zwei Seiten wurden wir von dutzenden Polizisten und zwei Wasserwerfern angegriffen und unsere Demo regelrecht zerschlagen. Für uns kam der Angriff der Polizei völlig aus dem Nichts, die Menschen flohen in Panik, viele wurden schwer verletzt.“
Bonner Klimaaktivistin und Betroffene
„Wir wurden alle in eine so genannte „Gefangenensammelstelle“ gebracht, die Zustände dort waren entwürdigend: Wir wurden in einen fensterlosen Container mit nichts als einer Holzbank und glatten weißen Wänden gesperrt. Alle außer den Minderjährigen wurden dort über 35 Stunden festgehalten. Wir alle mussten uns vor der Polizei nackt ausziehen, Frauen wurden besonders von der Polizei erniedrigt: Eine junge Kollegin wurde gezwungen, unter den Augen der Beamten ihren Tampon herauszunehmen, und bekam anschließend keinen neuen.“
Bonner Aktivist bei “Bonn Stellt Sich Quer – Neonazis Blockieren!” und Betroffener
O-Töne (Fortsetzung)
„Damit werden gemeinschaftliches Demonstrieren und gemeinschaftlicher Widerstand schlechthin kriminalisiert. Sollten die neuen Gesetze so angewandt werden, wie es sich die Staatsanwaltschaft wünscht, werden sie das gesamte Demonstrationsgeschehen in Deutschland nachhaltig verändern: Wenn jeder Demonstrant Angst haben muss, z.B. im Falle eines Handgemenges hinter Gittern zu landen – und zwar auch, wenn es von der Polizei ausging – werden sich viele von der Teilnahme an Kundgebungen, Demos oder Streiks abgeschreckt sehen. Das wäre ein gefährlicher Dammbruch und muss unbedingt verhindert werden.“
Carlotta Grohmann, Mitglied im ver.di-Bezirksjugendvorstand NRW-Süd 2016-2018 und Betroffene
„Die politischen Entwicklungen rund um den G20-Gipfel und in den letzten Jahren zeigen in eine eindeutige Richtung: Die Bundesregierung wünscht sich eine Ordnung, in der zunehmend nicht mehr der Bürger durch Grundrechte vor dem Eingreifen des Staates geschützt wird, sondern Staat, Polizei und Regierung vor der eigenen Bevölkerung. Wir aber wollen keinen solchen Obrigkeitsstaat: Es braucht gerade heute politisch aktive, wache, kritische Bürgerinnen und Bürger, die ihrer Stimme auch Gehör verschaffen können.“
Nils Jansen, Geschäftsführer des ver.di-Bezirksjugendvorstands NRW-Süd 2015-2018 und Betroffener
„Die Prozesse in Hamburg sind Testballons für die Zukunft – lasst uns jetzt gemeinsam handeln, um das Versammlungsrecht zu schützen! Wir demonstrierten in Hamburg und demonstrieren auch heute für eine vorwärtsgewandte und solidarische Lösung der drängenden Menschheitsprobleme. Unser Wirtschaftssystem und an seiner Spitze die G20-Staaten, gerade auch die Banken und Konzerne aus Deutschland, sind Hauptverantwortliche für Klimawandel, Kriege und soziale Unterdrückung. Es ist deshalb auch kein Wunder, dass antikapitalistische Proteste nach 2017 sogar noch deutlich zugenommen haben, und weiterhin zunehmen werden, solange keine gesellschaftlichen Lösungen da sind. Politische Repression wird den Protest nicht abschalten, ganz im Gegenteil.“
Simon Ernst, ver.di-Jugendvorstand NRW-Süd 2007-2013; Mitglied im ver.di-Bezirksfachbereichsvorstand Bildung, Wissenschaft und Forschung Köln-Bonn-Leverkusen; im Vorstand der Coordination gegen BAYER-Gefahren e.V. und im Internationalen gewerkschaftlichen Arbeitskreises Köln e.V., Betroffener
„Mit dem bundesweiten Aktionstag wollen wir gemeinsam Öffentlichkeit für den Prozess und seine gesellschaftliche Bedeutung schaffen, damit er nicht im Halbdunkeln von (Corona-) Hinterzimmern abläuft, und ein solidarisches Zeichen an die zuerst angeklagten jungen Demonstrant*innen senden: Ihr könnt wissen, ihr seid nicht allein! Sie sollen nämlich durch die ständigen Prozessfahrten und den Eingriff in ihre Ausbildung, ihr Abitur und ihr Studium eingeschüchtert werden. Nicht mit uns!“
Simon Ernst, ver.di-Jugendvorstand NRW-Süd 2007-2013; Mitglied im ver.di-Bezirksfachbereichsvorstand Bildung, Wissenschaft und Forschung Köln-Bonn-Leverkusen; im Vorstand der Coordination gegen BAYER-Gefahren e.V. und im Internationalen gewerkschaftlichen Arbeitskreises Köln e.V., Betroffener
Liebe Interessierte und Aktive gegen den Grundrechtabbau,
über 3 Jahre nach dem G20 Gipfel in Hamburg beginnen nun die von der Staatsanwaltschaft schon 2019 angekündigten „Mammutprozesse“ gegen die vom Polizeiübergriff in der Hamburger Straße „Rondenbarg“ betroffenen Demonstrant*innen.
Insgesamt sollen in mehreren „Paketen“ über 50 Demonstrant*innen angeklagt werden, die alle Opfer der Massenfestnahme am „Rondenbarg“ waren. Als erstes werden die fünf Demonstrant*innen vor Gericht gestellt, die bei der Demo noch minderjährig waren. Danach oder parallel kommen dann weitere Prozesse, in denen ebenfalls jeweils 20 Angeklagte, 40 VerteidigerInnen, 5-6 RichterInnen und Vertreter und zwei StaatsanwältInnen sitzen sollen – ein Riesenwahnsinn und die größten G20-Prozesse bisher.
In aller Kürze:
// Beteiligt euch am 28.11. am dezentralen Aktionstag: Auf der Straße oder online.
// Bleibt auf dem Laufenden und beteiligt euch an den Aktionen zur Prozessbegleitung: Erster Termin am 3.12. in Hamburg
// Spendet für die Betroffenen Aktivist*Innen auf das Konto der Roten Hilfe (s.u.)
Was war geschehen?
Mindestens 14 DemonstrantInnen wurden am 7.7.2017 z.T. schwer verletzt, als die Polizei die Anti-G20-Demonstration in der Hamburger Straße Rondenbarg binnen Sekunden brutal zerschlug. Nach sich widersprechenden Aussagen der Polizei wurden 4-12 Steine bzw. Böller in Richtung der Polizei geworfen, als diese die aus mehr als 150 Personen bestehende Demo ohne Ankündigung überfallartig auflöste. Kein Beamter kam zu Schaden, die beteiligten Polizeieinheiten dagegen sind für ihre Brutalität deutschlandweit berüchtigt: Das USK aus Bayern und die bundesweit bekannte Schlägertruppe der Einheit „BFE Blumberg“. Dazu hier die taz bereits 2016 (link).
„Angeklagt sind Wenige, gemeint sind wir alle!“ – Verteidigt die Versammlungsfreiheit!
Genau wie beim Prozess gegen den Italienischen Azubi Fabio V. im Juli 2017, wird niemandem eine individuelle Straftat zur Last gelegt, sondern die Staatsanwaltschaft klagt kollektiv an nach dem Motto „mitgefangen, mitgehangen –wenn andere vielleicht Straftaten begangen haben, dann seit ihr auch alle mitschuldig“. Schon „Anwesenheit bei einer Demo“ gegen den G20-Gipfel und „psychische Beihilfe“ werden kriminalisiert, und damit gemeinschaftliches Demonstrieren und gemeinschaftlicher Widerstand schlechthin. Hier der NDR dazu (link).
Dafür will die Staatsanwaltschaft u.a. die kurz vor dem G20 Gipfel 2017 neu erlassenen Gesetze zum „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ (§113/§114 StGB) anwenden. Demnach droht hierfür künftig eine Mindeststrafe von drei Monaten – für den Vorwurf des Widerstands reicht oft schon ein ängstlich weggezogener Arm. Zudem wurde der Katalog für besonders schwere Fälle, die mit sechs Monaten Mindeststrafe belegt sind, erweitert: Künftig reicht dafür u.a. auch die so genannte gemeinschaftliche Tatausführung – doch welche Demonstration, welcher Streik erfolgt nicht gemeinschaftlich?
Sollten die neuen Gesetze so angewandt werden wie es sich die Staatsanwaltschaft wünscht, werden sie das gesamte Demonstrationsgeschehen in Deutschland nachhaltig verändern. Wenn jeder Demonstrant Angst haben muss, z.B. im Falle eines Handgemenges hinter Gittern zu landen – und zwar auch, wenn es von der Polizei ausging – werden sich viele von der Teilnahme an Kundgebungen, Demos oder Streiks abgeschreckt sehen. Die Prozesse in Hamburg sind deshalb Testballons für die Zukunft – wir müssen jetzt gemeinsam handeln um das Versammlungsrecht zu schützen!Hier weitere Hintergründe (link).
Werdet aktiv: Bundesweiter Dezentraler Aktionstag am Samstag, 28.11.2020 und Prozessbegleitung
Lasst uns gemeinsam Öffentlichkeit für den Prozess schaffen, damit er nicht im Halbdunkeln von (Corona-) Hinterzimmern abläuft, und ein solidarisches Zeichen an die zuerst angeklagten jungen Demonstrant*innen senden: Ihr seid nicht allein! Sie sollen durch die ständigen Prozessfahrten und den Eingriff in ihre Ausbildung, ihr Abitur und ihr Studium eingeschüchtert werden. Lasst uns ihnen gemeinsam zeigen: Nicht mit uns!
Wir rufen alle auf: Beteiligt euch am 28.11. an den Aktionen in euren Städten oder organisiert selbst weiteren kreativen Protest am Aktionstag. Eine (sicher unvollständige) Liste der bisher bekannten Aktionen* zum dezentralen Aktionstag gibt es auf der Seite der Kampagne „Gemeinschaftlicher Widerstand“, die versucht, die einzelnen Initiativen zu vernetzen:
Alle, die wegen Corona oder aus anderen Gründen nicht auf die Straße können/wollen rufen wir dazu auf, in den sozialen Medien aktiv zu werden: Postet Bilder von euch (mit oder ohne Gesicht, mit oder ohne Maske, in der Gruppe oder allein vor dem Rechner) und einem Schild zum Thema (z.B. „Grundrechte verteidigen!“, „Polizeigewalt stoppen!“, „Solidarität mit den G20-Angeklagten!“ usw.) und verbreitet sie unter den Hashtags #Rondenbarg #noG20 #Polizeiproblem #Polizeigewalt.
Beteiligt euch an den Aktionen im Laufe der Prozesse: Es werden regelmäßig Kundgebungen und Aktionen stattfinden. Auf www.grundrechteverteidigen.de werden immer die aktuellsten Termine bekannt gegeben.
Spendet für die von Repression Betroffenen Aktivist*innen auf folgendes Konto:
Polizisten würden immer öfter angegriffen und müssten besser geschützt werden. Mit dieser Begründung verschärfte die Bundesregierung 2017 das Strafrecht: Wer sich Polizisten widersetzt, riskiert heute auch für Bagatellen harte Strafen, sogar Haft. Außerdem kann praktisch jede Handlung als Widerstand gewertet und so strafrechtlich verfolgt werden, sagen Fachleute. Gewalt von Polizisten gegen Bürger bleibt dagegen oft ohne Folgen. Der allergrößte Teil der Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen rechtswidriger Übergriffe wird eingestellt. Dabei überschreiten Polizisten im Dienst nicht selten ihre Grenzen und gehen übermäßig hart gegen Bürger vor.
Von Jochen Taßler, Lara Straatmann, Herbert Kordes, Max Scharffetter
In Deutschland werden zahlreiche Fälle mutmaßlicher Polizeigewalt zur Anzeige gebracht, aber nur in einem Bruchteil der Fälle wird auch Anklage erhoben. Zu diesem Ergebnis kommt eine Auswertung der Uni Bochum und des ARD-Politmagazins Report Mainz.
Der Vorwurf, Polizeigewalt in Deutschland werde nur unzureichend geahndet, ist nicht neu – aber nun wird er durch Zahlen gestützt. Wie Recherchen des Kriminologen und Juristen Tobias Singelnstein von der Ruhr-Uni Bochum und des ARD-Politmagazins Report Mainz ergeben, gab es 2016 insgesamt 2383 Ermittlungsverfahren gegen Polizeibeamte wegen rechtswidriger Gewaltausübung. In 90 Prozent der Fälle allerdings wurden die Verfahren eingestellt, in nur 2,34 Prozent der Fälle wurde Anklage erhoben oder ein Strafbefehl erlassen.
Zu große Nähe zwischen Ermittlern und Beklagten
Ähnlich sah es laut Report Mainz für den Zeitraum von 2010 bis 2015 aus. Gestützt werden diese Zahlen nach Angaben des Politmagazins auch durch Aussagen von Polizisten. So habe ein hochrangiger Polizeibeamter die Ergebnisse bestätigt.
Den Grund für die geringe Aufklärungsquote sieht Kriminologe Singelnstein vor allem in der institutionellen Nähe der ermittelnden Behörden zu den beschuldigten Beamten. Notwendig sei daher die Einrichtung unabhängiger Ermittlungsstellen – wie es in vielen anderen Ländern üblich ist.
Strukturelles Problem
Der Wissenschaftler will nicht von Einzelfällen sprechen, sondern sieht ein strukturelles Problem. So sprächen sich im Falle von Ermittlungen die betroffenen Polizisten oft so ab, dass das rechtswidrige Verhalten nicht der Polizei, sondern dem Gegenüber angelastet werden kann: „Das ist eine Struktur innerhalb der Polizei. Das kommt relativ häufig vor. In der Kriminologie sprechen wir von der Mauer des Schweigens, die auf dem besonderen Korpsgeist, der innerhalb der Polizei herrscht, basiert. Und es gilt innerhalb der Polizei als untunlich, diese Basis zu verlassen und die Kollegen zu beschuldigen“, sagt Singelnstein.
Hintergrund: Prügelnde Polizisten in Stuttgart
Report Mainz hatte die Recherchen zur Polizeigewalt in Deutschland angestoßen, nachdem vier Polizeibeamte nach einem Unfall in Stuttgart im Jahr 2017 auf einen wehrlosen Mann eingeprügelt hatten. Das dokumentieren ein über neun Minuten langes Video und mehr als 230 Fotos. Zeugen am Tatort bestätigten, dass von dem Opfer keinerlei Gewalt ausgegangen sei. Zwei Experten bezeichnen die auf dem Video dokumentierte Gewalt als kriminell.
Doch das Polizeipräsidium Stuttgart stellte den Vorfall in einer Pressemitteilung vom gleichen Tag anders dar: Da ist die Rede von einem rabiaten Beifahrer, der gegen einen Polizisten tätlich wurde. Entsprechend negativ ist die Berichterstattung über das Opfer. Gegen ihn wird bis heute wegen Widerstandes gegen Vollstreckungsbeamte strafrechtlich ermittelt. Denn die vier beteiligten Polizisten gaben später gleichlautende dienstliche Erklärungen ab, er habe einen Beamten angegriffen. Doch davon ist weder auf dem Video noch auf den Fotos etwas zu erkennen, und Zeugen am Tatort haben ein solches Verhalten auch nicht beobachtet.
Gegen drei von vier der beteiligten Beamten wurde das Ermittlungsverfahren inzwischen eingestellt.
Über dieses Thema berichtete Report Mainz am 24. Juli 2018 um 21:45 Uhr.
Markus Bernhardt im Gespräch mit Nils Jansen, Sprecher der Initiative Grundrechte verteidigen – Ausgabe vom 6. Juli 2018
UZ: Die nordrhein-westfälische Landesregierung aus CDU und FDP will das Polizeigesetz novellieren. Was konkret haben Sie an den Plänen von Landesinnenminister Herbert Reul (CDU) auszusetzen?
Nils Jansen: In NRW soll künftig jede Einwohnerin und jeder Einwohner unter dem Vorwand der Verbesserung der Sicherheit und der „Terrorismusbekämpfung“ komplett durchleuchtet, abgehört und sogar weggesperrt werden können, zum Teil sogar unter Umgehung von Richtern, direkt durch die Polizeibehörden. So will es Reuls im Juni zurückgezogener Gesetzesentwurf, und das wird auch im September bei der Neuvorlage Thema sein. Kern des neuen Polizeigesetzes ist die Einführung des Rechtsbegriffes der „drohenden Gefahr“.
Durch die Fixierung auf die bloße Vermutung einer Gefahr, ohne dass Straftaten begangen würden, wird die Polizeitätigkeit grundlegend verändert und vorverlagert in einen Bereich, in dem keine konkrete Gefahr existiert. Verbrechen so weit im Vorfeld zu verhindern, mag vielleicht manchem im ersten Moment wünschenswert erscheinen, erhebt aber unverdächtiges, grundrechtlich geschütztes und auch gesellschaftlich wünschenswertes Handeln in den Bereich des Verdächtigen.
Es handelt sich um ein zutiefst politisches Polizeigesetz, das die „Sicherheit“ der Regierung und der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse im Blick hat, nicht aber die Sicherheit der Bevölkerung. Für die Bevölkerung ist das Gesetz sogar brandgefährlich: Wer in Zeiten zunehmender sozialer Konflikte Proteste organisiert, z.B. gegen eine Werksschließung oder gegen Rassismus und die Verherrlichung von neonazistischem Gedankengut, wird in Zukunft ganz konkret durch Haft bedroht.
Das hat spätestens die erste Anwendung dieser Regelung im neuen bayrischen „Polizeiaufgabengesetz“ gegen einen Jugendlichen am 26. Juni eindrücklich gezeigt. Der junge Antirassist ohne Vorstrafen wurde eingesperrt, weil er an der Demonstration gegen den Augsburger AfD-Parteitag teilnehmen wollte. Die Polizei sah darin eine drohende Gefahr, was für den Freiheitsentzug ausreichte.
Das Gesetz in NRW ähnelt dem bayrischen Gesetz. Es sieht vor, von der Polizei definierte „Gefährder“ bis zu einen Monat in „Präventivgewahrsam“ stecken zu können – ohne Gerichtsverfahren. Aber die schweren Grundrechtseingriffe betreffen bei Weitem nicht nur das Versammlungsrecht. Die neuen Regelungen ermöglichen der Polizei, Menschen auch ohne konkreten Verdacht anzuhalten und zu durchsuchen oder mit Hausarrest und elektronischen Fußfesseln zu belegen – nicht nur racial profiling ist da programmiert. Die Polizei soll das Recht erhalten, nach ihrem Belieben Smartphones und vor allem Messenger wie WhatsApp zu hacken und mitzulesen – der völlige Verlust der Privatsphäre. Zudem wird auch die Videoüberwachung des öffentlichen Raums ausgeweitet – ein handfester Alptraum für unsere demokratischen Grundrechte.
UZ: Sie befürchten also – auf den Punkt gebracht – dass sich die BRD in Richtung eines autoritären Polizeistaates entwickelt?
Nils Jansen: Ja, offensichtlich. Seit 1945 hat es in Deutschland keine Ausweitung polizeilicher Befugnisse in dieser Größenordnung gegeben. Die Verschärfung des Polizeigesetzes ist zudem leider nur der Gipfel einer langen Reihe von Grundrechtseingriffen. Viele Elemente eines Polizeistaates sind ja längst da: Sei es die Einschränkung des Versammlungsrechts, der Ausbau von Facebook/WhatsApp-Überwachung durch den Bundestrojaner oder die Einschränkung des Streikrechts durch die „Tarifeinheit“ oder auch die faktische Aufhebung der Grundrechte von Millionen Migranten und Geflüchteten in den letzten Jahren, z.B. durch das „Asylpaket II“. Auch die ganz materielle Gewalt des existierenden Polizeiapparates ist groß und wurde in den letzten Jahren durch viele Gesetze und Maßnahmen weiter ausgebaut, so dass mittlerweile auf 177 Einwohner ein Polizist kommt. Zudem wurden die antifaschistischen Lehren des Hitler-Faschismus durch den Kamin gejagt: Geheimdienste und Polizeibehörden haben gleich mehrfach gemeinsame Datenbasen und Hauptquartiere geschaffen, wie z.B. das GTAZ und das GTEZ. Und zunehmend erklären dieselben Innenpolitiker, dass dies Maßnahmen sind, die auch dazu dienen, die politische Linke zu bekämpfen. Es ist an der Zeit, dem Rad in die Speichen zu greifen!
UZ: Aber ist es in Zeiten zunehmender „terroristischer Bedrohung“, die die etablierte Politik ausgemacht hat, nicht tatsächlich notwendig, die Befugnisse der Sicherheitsbehörden anzupassen?
Nils Jansen: Wer beim Wort „Gefährder“ an Terroristen denkt, liegt daneben! Denn festgelegte Kriterien für „Gefährder“ gibt es nicht, das entscheidet zunächst die Polizeibehörde selbst. Betroffen von diesen Eingriffen in Grundrechte ist wirklich jeder: Fußballfans oder Streikführer, Whistleblower oder Demonstranten – treffen kann das neue Gesetz nahezu jede und jeden. Es reicht schon, bestimmte Internetseiten anzuklicken, mit „verdächtigen“ Personen in Kontakt zu stehen oder einfach zur falschen Zeit am falschen Ort zu sein. In Thüringen wurde im Mai der Anmelder eines linken Musikfestivals von der Polizei zum „Gefährder“ erklärt, weil er eine Band auftreten ließ, die dem türkischen Präsidenten Erdogan nicht passt: Grup Yorum.
Um gegen die wachsenden terroristischen Bedrohungen auf dieser Welt effektiv etwas unternehmen zu können, müssen nicht Millionen Menschen überwacht werden. Da wäre natürlich viel effektiver, und ohne jeden Grundrechtseingriff machbar, dass die deutsche Regierung die Rüstungszusammenarbeit mit den Hauptfinanciers des Terrors unterbindet: Saudi-Arabien, Türkei und Qatar, um nur einige zu nennen. Oder dass, wie beim Lafarge-Prozess in Frankreich, die Geldwäsche von Organisationen wie dem IS angegriffen würde. Leider gab es in dieser Hinsicht fast keine Bemühungen, was auch zeigt, dass die Begründung der aktuellen Grundrechtseingriffe nur vorgeschoben sein kann. Der Lafarge-Prozess ist der erste seiner Art. In Wirklichkeit wollen Regierung und Wirtschaft – hier vor allem die größten Konzerne – neue Unterdrückungsmechanismen gegen die eigene Bevölkerung, in stürmischen Zeiten wachsender sozialer Spannungen.
UZ: Nun dürften Ihnen viele Bürgerinnen und Bürger entgegnen, dass wer nichts zu verbergen habe, auch nichts befürchten müsse. Was antworten Sie darauf?
Nils Jansen: Oh, das ist sehr naiv und kurz gedacht. Dieser Gedanke dreht ja den grundlegenden Gedanken der bürgerlich-demokratischen Revolutionen um in: „Tu, was der Obrigkeit genehm ist, dann passiert dir nichts.“ Man möge die Bill of Rigths von 1789 ansehen – dem Staat werden von Beginn des bürgerlichen Rechtsdenkens an Grenzen gesetzt: Der Staat darf nicht durchsuchen, außer, der Staat darf nicht deine Freiheit rauben, außer. Der neue Grundsatz: „Wer nichts zu verbergen hat, …“ ist eine Umkehr dessen. Es ist die Einwilligung in die Aneignung unserer Nachrichten, unserer Bilder, unserer Videos, unserer Privatsphäre, unseres intimen Lebens, unserer gesellschaftspolitischen Beziehungen durch den Staat und besonders durch die Polizei. Ein digitales Ticket zurück ins Mittelalter.
UZ: Zunehmend sollen Personen bei einer „drohenden Gefahr“ auch bis zu vier Wochen in Gewahrsam genommen werden können. Kommt das nicht einer Art Schutzhaft gleich?
Nils Jansen: Ja, Gefährderhaft oder Präventivhaft ist nur ein neuer Name für die alte politische „Schutzhaft“. Ursprünglich von Kaiser Wilhelm gegen die Arbeiterbewegung erlassen, die gegen den ersten Weltkrieg protestierte, richtete sich die Schutzhaft schon von Anfang an gegen Links. Mit der demokratischen Revolution vor 100 Jahren wurde die Schutzhaft dann abgeschafft, aber dann 1933 mit Hitlers Machtantritt wieder eingeführt. Derjenige sei in Schutzhaft zu nehmen, der bei Juden einkaufe und daher seine staatsfeindliche Gesinnung zum Ausdruck bringe, heißt es in damaligen Schutzhaftbefehlen beispielsweise. Nach 1945 gab es dann eine erneute Anwendung nur gegen die Gegner der Remilitarisierung, also vor allem gegen Kommunisten und andere Linke.