aus: WELT vom 23.9.

G-20-POLIZEI-EINSATZ: „Das verstößt gegen die Verfassung“

Von Per Hinrichs |  

Der Schutz der Staatsgäste hatte bei dem G-20-Gipfel im Hamburg höchste Priorität, der Schutz der Bürger war nachrangig. Anwalt Gerhard Strate hat dazu eine klare Meinung und geht mit Olaf Scholz hart ins Gericht.

Gerhard Strate, 67, ist einer der renommiertesten Strafverteidiger Deutschlands. Der Hamburger stellte 2009 die Strafanzeige gegen Vorstandsmitglieder der HSH Nordbank, die den Prozess gegen die Banker in Gang setzte. In der kommenden Ausgabe der „Neuen Juristischen Wochenschrift“ (NJW) setzt er sich in einem Kommentar kritisch mit dem G-20-Gipfel auseinander. Strate meint, dass der Rechtsstaat während des Gipfels außer Kraft gesetzt wurde.

DIE WELT: Sie kritisieren den G-20-Einsatz in der NJW als verfassungswidrig. Warum?

Gerhard Strate: Weil die Polizei in ihrem sogenannten „Rahmenbefehl“ vom 9. Juni 2017 feststellt: „Der Schutz und die Sicherheit der Gäste haben höchste Priorität.“ Damit haben die Polizei – und die politisch verantwortliche Innenbehörde – schwarz auf weiß festgelegt, dass die Sicherheitsinteressen der Bürger nachrangig sind. So haben es jedenfalls die Bewohner Altonas in den Morgenstunden des 8. Juli erlebt. Das verstößt gegen die Verfassung.

DIE WELT: Aber folgt der Befehl nicht einer inneren Logik bei einem solchen Einsatz, nämlich dass der Schutz der Gäste an erster Stelle stehen muss? Um sie geht es schließlich.

Strate: Bei einer ersten Betrachtung mag das plausibel klingen. Aber juristisch ist das eben nicht haltbar. Das Bundesverfassungsgericht hat am 15. Februar 2005 in seinem Urteil zum Luftsicherheitsgesetz festgestellt, dass „es zum Wesen des Menschen gehört, in Freiheit sich selbst zu bestimmen und sich frei zu entfalten, und dass der Einzelne verlangen kann, in der Gemeinschaft als gleichberechtigtes Glied mit Eigenwert anerkannt zu werden“.

DIE WELT: Aber dabei ging es um die Frage, ob ein voll besetztes, entführtes Passagierflugzeug abgeschossen werden dürfte, um ein noch größeres Unglück zu verhindern. Kann man das mit einem Polizeibefehl bei einem Gipfeltreffen vergleichen?

DIE WELT: Könnten Hamburger denn die Stadt verklagen, wenn ihr Auto angezündet worden ist?

Strate: Das wäre zu prüfen. Ist der Bürger über Stunden hinweg schutzlos vandalistischen Aktionen ausgesetzt, weil Polizeikräfte für Aufgaben anderer, „höchster Priorität“ gebraucht werden, liegt es nicht völlig fern, hierin ein entschädigungspflichtiges Sonderopfer zu sehen.

DIE WELT: Die Polizei handelt nicht im luftleeren Raum. Was haben die Politiker falsch gemacht?

Strate: Der Gipfel hätte natürlich nicht in Hamburg stattfinden dürfen, wenn die Sicherheit der Bürger nicht gleichrangig zu der der Gäste zu garantieren war. Scholz, den ich sehr schätze, hätte das Angebot der Kanzlerin, die Veranstaltung auszurichten, ausschlagen müssen. Er hat sich böse verkalkuliert. Heute will er, der auch einmal Innensenator dieser Stadt war, nicht einmal den Einsatzbefehl der Polizei gekannt haben. Das ist schwer vorstellbar. Ein Beispiel: Im Juli 2016 machte Scholz noch die Fortführung der „Cyclassics“ öffentlich zur Chefsache. Und die Vorbereitung des G-20-Gipfels will er nicht genau verfolgt haben, das war keine „Chefsache“? Das ist entweder unglaubwürdig oder fahrlässig.

DIE WELT: Die Fraktionen der Bürgerschaft wollen es auch genauer wissen und haben einen Sonderausschuss beschlossen. Reicht das?

Strate: Nein. Die Bürgerschaft sollte einen Parlamentarischen Untersuchungsausschuss einsetzen, um die Genese der G-20-Planung, den genauen Verlauf der Einsätze und die Verantwortlichkeiten auf allen Ebenen aufzuklären und zu benennen. Er ist das klassische Organ, um Sachverhalte, deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt, zu untersuchen. Ein Sonderausschuss wird das nicht schaffen können. Er bleibt ein zahnloses Gremium.

DIE WELT: Die Steine haben Autonome geworfen, nicht Politiker. Gehen Sie mit den Regierenden nicht zu hart ins Gericht?

Strate: Nein. Die Politiker sind sehenden Auges ins Unglück geschlittert. Hamburg hat gelitten, der Rechtsstaat war zeitweilig außer Kraft gesetzt. Szenen wie in Altona, als Randalierer Autos angezündet haben und weit und breit weder Feuerwehr, noch Polizei zu sehen waren, haben sich in die Herzen der Leute eingebrannt. Sie wurden im Stich gelassen.

DIE WELT: Auch die Polizei erhält in diesen Tagen viel Kritik. Ist sie gerechtfertigt?

Strate: Zum Teil bestimmt. Ich frage mich , warum die Innenbehörde eine Demonstration unter dem Titel „Welcome to Hell“ ohne Auflagen genehmigt, und dann bei den – zu erwartenden! – Vermummungen sofort einschreitet. Üblicherweise weist die Behörde den Anmelder darauf hin, dass die Demonstranten das Vermummungsverbot einzuhalten haben. Warum geschah das hier nicht? War das eine einsatztaktische Finesse? Wollte die Polizeiführung den Konflikt provozieren? Solche Fragen muss die Bürgerschaft gründlich aufarbeiten.

https://www.welt.de/regionales/hamburg/article166935135/Das-verstoesst-gegen-die-Verfassung.html