aus: ZEIT 49/2017

G20-Gipfel: Exempel am Milchbubi

Vier Monate lang saß der G20-Gegner Fabio V. in Untersuchungshaft, obwohl er nicht mal einen Stein geworfen hat. Das ist befremdlich.

Die folgenden Sätze stammen von einem Richter. Mit ihnen begründet er, warum ein Angeklagter in Untersuchungshaft bleiben muss: „Er schloss sich einer hochgewaltbereiten Gruppe schwer bewaffneter Straftäter an.“ – „Er ist jederzeit bereit und in der Lage, sich kriminellen Strukturen unmittelbar anzuschließen und in ihnen unterzutauchen.“ Außerdem habe er schädliche Neigungen. „Hierbei handelt es sich um erhebliche Anlage- und Erziehungsmängel, die ohne längere Gesamterziehung die Gefahr weiterer Straftaten begründen.“

Freiheit für die Banker, Knast für die G20-Gegner – Richter Marc Tully

Drastische Worte. Zuschreibungen, die die besondere Verrohung des Täters zum Ausdruck bringen sollen. Sie standen in der Septemberausgabe der Neuen Zeitschrift für Strafrecht. Geschrieben vom Vorsitzenden eines Strafsenats des Hanseatischen Oberlandesgerichts. Läse man seinen Artikel ohne nähere Kenntnis des wahren Sachverhalts, man müsste davon ausgehen, es mit einem brutalen Schläger oder Totschläger zu tun zu haben. Der Text aber handelt von Fabio V.

Fabio V. ist 18 Jahre alt, Italiener, und hat ein jugendlich-zartes Gesicht. Er lebt noch bei seinen Eltern, hat einen festen Job. Anfang Juli war er nach Hamburg gekommen, um gegen das G20-Treffen zu protestieren. Sein Zelt hatte er im Protestcamp im Volkspark aufgestellt. Am Morgen des 7. Juli startete er von dort aus mit einer Gruppe schwarz gekleideter Personen Richtung Innenstadt. Am Rondenbarg wurde die Gruppe von der Polizei aufgehalten. Es flogen Flaschen und Steine. Fabio V. soll nichts geworfen haben. Davon geht auch die Staatsanwaltschaft aus. Dennoch wurde er verhaftet und wegen schweren Landfriedensbruchs sowie versuchter gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Gut vier Monate saß er in Untersuchungshaft. Erst Anfang der Woche kam er frei, gegen eine Kaution von 10.000 Euro.

In Haft geriet Fabio V. als militanter G20-Gegner. Aus der Haft wird er entlassen als Symbol einer Strafjustiz, die im unbedingten Wunsch, jemanden für das G20-Debakel zur Verantwortung zu ziehen, mitunter jedes Maß verliert.

Aus jeder Zeile des Artikels ist der Wille herauszulesen, in dem 18-Jährigen einen jener Gewalttäter zu erblicken, die im Juli die „bürgerkriegsähnlichen Zustände“ verursachten. Juristisch ist damit das Delikt des Landfriedensbruchs gemeint. In ihm ist tatsächlich eine Bestrafung fürs bloße Dabeisein bei Ausschreitungen angelegt. Es reicht aus, Teil einer Menge zu sein, aus der heraus Gewalttaten begangen werden. Dennoch muss eine Inhaftierung verhältnismäßig sein, vor allem vor dem Hintergrund der zu erwartenden Strafe. Die meisten Haftrichter, die damals über Demonstranten vom Rondenbarg zu entscheiden hatten, ließen diese frei.

Der Vorsitzende des OLG-Senats tat das nicht. Er ging noch weiter. Er bewertet die Tat von Fabio V. nicht nur als einfachen, sondern als schweren Landfriedensbruch. Darauf stehen bis zu zehn Jahre Haft. Für das Delikt wäre zwar Voraussetzung, dass der Italiener persönlich eine Waffe bei sich geführt oder einen anderen lebensgefährlich verletzt hat – was nicht der Fall war. Der Richter entwickelt das Delikt aber fort: Ein schwerer Landfriedensbruch dränge sich auch auf, wenn der Täter „die öffentliche Sicherheit in besonders schwerwiegender Weise gestört“ hat, schreibt er.

Hat Fabio V. das? Vor den Gerichten der Stadt sitzen in diesen Wochen noch ganz andere G20-Täter. Vor zwei Wochen wurde ein 28-Jähriger verurteilt, der von sich selbst sagt, dass er völlig unpolitisch sei. Dennoch hat er in der Nacht auf den 8. Juli drei Stunden lang im Schanzenviertel gewütet, Steine und Flaschen auf Polizisten geworfen. Außerdem war er bei der Plünderung dreier Geschäfte dabei. Er hat schwere Gewalt ausgeübt.

Bei Fabio V. steht die Sache anders. Die schwersten Vorwürfe gegen ihn lauten, dass er szenetypische schwarze Kleidung und einen Schal bei sich trug, obwohl es Sommer war. Und dass er Teil dieser gewaltbereiten Gruppe war, bei der die Polizei unter anderem Pyrotechnik, Stahlseile, eine Zwille und einen Feuerlöscher fand.

Die Amtsrichterin, die seinen Prozess seit Mitte Oktober führt, entschied vor zwei Wochen, den „Milchbubi“, wie V. in der Boulevardpresse genannt wird, gegen Kaution aus dem Gefängnis zu lassen. Tagelang wurde hinter den Kulissen gerungen, weil die Staatsanwaltschaft seine Flucht befürchtete. Dann kam er frei.

Der OLG-Senat hat Fabio V. allerdings noch Steine in den Weg gelegt: Die Akte lag den Richtern schon am vergangenen Donnerstag vor, sie hätten sofort beraten und entscheiden können. Taten sie aber nicht. Der Senat teilte seine Entscheidung, den Italiener gegen Auflagen zu entlassen, erst am Freitagnachmittag mit – zu einem Zeitpunkt also, als die Auflagen aus bürokratischen Gründen nicht mehr zu erfüllen waren. Fabio V. musste also ein weiteres Wochenende hinter Gittern verbringen. Soll man da an einen unglücklichen Zufall glauben?